Hier finden Sie Meinungen, Kommentare und Rezensionen zu ausgewählten Büchern:

(Der jeweilige Inhalt spiegelt nicht in jedem Fall die Meinung des Alsfelder Literaturbrunnens wider.)

 

 

Bücher und Leser
Gedanken zu Hermann Hesse, Musik des Einsamen und anderen antiquarischen Werken mit einer Leser-Geschichte

In Antiquariaten findet man viele alte Bücher, das ist schön für Bücherfreunde, und es sind gar nicht die besterhaltenen ungelesenen unbefleckten ohne Knick und Lesespuren, sondern grade die Bücher, denen man ansieht daß sie ein Menschenleben begleitet haben: Bücher mit Widmungen, Anstreichungen, Notizen, mit als Lesezeichen eingelegten Postkarten oder Kalenderblättern, eingeklebten Zeitungsrezensionen, Gedichten, vielleicht eigenen Gedichten, und dann die Exlibris mit dem Namen des Verstorbenen. Vielleicht findet man sogar mehrere Bücher desselben Eigentümers und kann auf dessen Interessen schließen, und es lassen sich auch zarte Gefühle erraten, als der oder diejenige jung war, und das Buch ist dann mit dem Menschen alt geworden.

Es war im ersten großen Krieg des letzten Jahrhunderts, am 28. November 1915, zweites Kriegsjahr, als „mit einem Gruß treuen Gedenkens“ ein grade erschienener Gedichtband von Hesse verschenkt wurde, ohne Schenkenden oder Beschenkten zu nennen. Nach dem Krieg folgten 15 Jahre Republik, 1923 wurde Helge, die als neue Eigentümerin ohne Widmungsdatum vorn im Buch steht, geboren. Dann kam das Dritte Reich und die Kulturlosigkeit der Nazis, dann der zweite Weltkrieg, dessen Ende und das Aufatmen und, wie die noch im Konvolut zusammenstehenden Bücher des Antiquariatsregals verraten, eine Beschäftigung über Jahrzehnte in den 50ern, in den 60ern bis in die 90er Jahre mit dem Elend des Krieges, mit Schriften über Konzentrationslager, Expressionismus, Pazifismus, jiddischer Literatur, Kriegsberichten und anderm erinnerungswertem. Noch während des Krieges, 1942, bekam Helge zum 19. Geburtstag einen Band Nietzsche- Gedichte mit Widmung, „Meiner lieben Helge von Hanna“, in dem sich Anstreichungen mit Bleistift und eine Notiz „wohl an Richard Wagner …“ unter dem Gedicht „Für falsche Freunde“ befinden. Außerdem darin ein mehrfach gefalteter Zeitungsartikel ohne Quelle und Datum über Lou Andreas-Salomé und Friedrich Nietzsche sowie ganz vorn eingeklebt zwei Gedichte und ein rundes Exlibri mit der Kirche von Göppingen und Bergen im Hintergrund, dasselbe Exlibri übrigens klebt im Hesse-Gedichtband.

Ich bin kein Freund von Hesse, weder von Leben noch Werk desselben, die auf Vorsatzblätter und Buchdeckelinnenseiten geklebten Hessegedichte aus ersichtlich verschiedenen Quellen, vermutlich Kalendern und Zeitschriften, rühren mich aber doch. Und ein aus Westermanns Monatsheften stammendes eingelegtes A5-Blatt mit einem kleinen Hessetext „Wiederbegegnung mit zwei Jugendgedichten“ hat tatsächlich wie es Hesse ausdrückt, die „leise Magie der gepreßten Blumen oder der unter Glasaufbewahrten Haarlocken früherer Zeiten“, doch umfaßt die Magie soviel Schreckliches, Kriegsjahre, Jahre von Haß und Verfolgung, daß kaum begreiflich ist, wie ein Mensch an diesem Hesse-Gedichtbuch gehangen hat!

Aus dem umfangreichen Konvolut, das sich in dem Antiquariat in Alsfeld befand, habe ich einen ganzen Arm voll Bücher mitgenommen, als ich vor einigen Jahren während des Burg-Herzberg-Festivals einen Ausflug machte. Unter anderm war das ein Barlach-Drama (Cassirer-Verlag 1929), Scholem- Alejchems „Methusalem“ mit phantastischen Radierungen (Altberliner Verlag 1988), eine Zeitschrift des Freundeskreises der Auschwitzer (1996), Valentinstücke und Hafisgedichte und eine pazifistische Studie über Frauen in der Friedensbewegung (Völkerbundsarchiv Genf 1993). Wenn ein Menschenleben all dies umfaßt und durchgemacht hat und an seinem Lebensende die Zeugnisse, die Worte, die Bücher den lebendigen Zusammenhalt verlieren, dann sollte sie jemand finden in dem Antiquariat in Alsfeld und nachdenken über Vergänglichkeit. Ist schon eigenartig die von Helge am meisten abgenutzten Bücher mitzunehmen, darin zu lesen und Gedanken nachzuhängen, die sie vielleicht gedacht haben könnte? Es ließ sich nicht mehr feststellen, wofür sie sich im Leben eingesetzt hat, eine Biografie der Leserin, die doch offenbar so dauerhafte und weitgehende Interessen hatte, existiert nicht. Hingegen ist über die Autoren viel geschrieben worden, aber was wären all die Autoren und Bücher ohne Leser?

(Herrmann Cropp, Osnabrück)

 

Navid Kermani, Große Liebe    Roman, erschienen im Hanser Verlag 2014

Was haben die Erlebnisse eines verliebten Fünfzehnjährigen mit den Gedanken großer arabischer Mystiker des Mittelalters zu tun? Viel! So die Meinung des bekannten und preisgekrönten Autoren Navid Kermani:

„Es wird einen Grund geben, warum Ibn Arabi ausdrücklich nur die frühe Verliebtheit als vergleichbar, als verwandt, als nicht nur den Symptomen nach übereinstimmend mit dem ‚Ertrinken‘ des Mystikers bezeichnete. Vielleicht sind wir gerade dort wir, wo wir es am wenigsten zu sein meinen.“

Dem eigenen Ich ist Kermani wohl auf der Spur, wenn er in ‚Große Liebe‘ die Geschichte seiner kurzen, aber umso intensiveren Schulhofliebe erzählt, an die er sich nur in Bruchstücken erinnern kann, Bruchstücke allerdings, die er in wundervoll poetischer Sprache zu fragilen Brücken gestaltet in eine ferne, vergangene Welt: die der Friedensbewegung Anfang der Achtziger Jahre in einem kleinen  Städtchen im Rheinland.

„Aber was ist schon Wirklichkeit, um mit Ibn Arabi zu fragen , wo endet der Traum, wenn mir eine Situation, die ich vor dreißig Jahren erlebt, so viel anschaulicher ist als die Gegenwart, die mit Rauhreif bedeckt scheint, alle Töne und Lichter wie gedämpft. (…) Und doch ist die Szene, gleichzeitig wie aus einer anderen Welt, einem anderen Leben, insofern ich nur noch die Handlung kenne, aber den Jungen nicht mehr von innen zu beschreiben vermöchte, wann er sich welche Gedanken machte, wie er auf diese oder jene Ahnung verfiel, ob Hoffnung ihn antrieb oder die nackte Verzweiflung. Als sei ich ein anderer, stünde auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig,…“

In 100 kurzen Kapiteln, welche den überschaubaren Zeitraum der Liebesbeziehung in Tagen widerspiegeln, führt Kermani den Leser in die Seelenzustände des Jugendlichen, in seine anfängliche Verwirrtheit , seinen Mut sich lächerlich zu machen, den Glückszustand beim Zusammensein mit der Geliebten und schließlich sein Leiden an der Trennung und Auflösung.

Dabei wirkt die Geschichte nie trivial. Sie liest sich leicht und ist dennoch tiefsinnig und anspruchsvoll, sie lebt von leiser Ironie und anrührender Ernsthaftigkeit.

Für jemanden, der – wie ich  –  selbst in der genannten Zeit in Bonn gelebt hat, ist dieses Buch aufgrund der liebevollen Beschreibung der damaligen Stimmung und Atmosphäre in der Gesellschaft ein ganz besonderes Lesevergnügen.

(Aegidius Kluth)

 

Luca di Fulvio, Der Junge, der Träume schenkte.                                                                                            Roman aus dem Italienischen übersetzt von Petra Knoch als Taschenbuch erschienen bei Bastei Lübbe 2011.

„Voller Eifer hat er sich in die Tasten gestürzt, all das durchlebt, wovon er schrieb, als wäre er selbst mittendrin bei seinen Figuren: Freundschaft, den Kampf ums Emporkommen oder schlicht ums Überleben, die Existenzen der Lower East Side. Und der Traum von Liebe. Die Welt, wie sie sein sollte. Vollkommen und sinnhaft auch im Schmerz, in der Tragödie. Danach hat er gestrebt: Er hatte dem Leben einen Sinn verleihen und es weniger zufällig machen wollen. Denn die Vollkommenheit bestand nicht darin, Erfolg zu haben, etwas zu schaffen oder einen Traum wahr zu machen, sondern in der Sinnhaftigkeit. So hatten in seiner Geschichte auch die Bösen ihren Sinn gefunden. Und jedes Leben war mit den andern verwoben wie die Fäden eines Spinnennetzes, die sich alle miteinander zu einem übergeordneten Ganzen verbanden. Er wollte ein reales Bild zeichnen, kein abstraktes. Ohne falsches Pathos sollte es sein, ironisch. Gefühlvoll.“

Luca di Fulvio beschreibt mit diesen Worten die Arbeit seines Protagonisten Christmas Luminitia an dessen Theaterstück, das den vorläufigen Höhepunkt eines Aufstiegs im New York der sogenannten zwanziger Jahre bilden sollte. Des Aufstiegs vom armen Sohn einer italienischen Prostituierten zu einem reichen Star der amerikanischen Kulturszene. Das hört sich ganz nach der alten Geschichte vom amerikanischen Traum an und ist es wohl in großen Teilen auch. Dass es dennoch nicht allzu klischeehaft wird, liegt für mich daran, dass auch bei Luca di Fulvio vieles von dem zu spüren ist, was er im obigen Zitat seinem Christmas zuschreibt. Es gelingt ihm auf den fast 800 Seiten und 70 Kapiteln die Fäden der vielen schillernden Persönlichkeiten, die er beschreibt, zu einem großen faszinierenden Ganzen zu verbinden und er schreibt, als wäre er selbst mittendrin bei seinen Figuren.

Der Roman ‚Der Junge, der Träume schenkte’ bietet einen spannenden Einblick in die brutale Gangsterwelt Manhattans, erzählt aber auch gefühlvolle Geschichten von Freundschaft und Liebe. Lesenswert.

(Aegidius Kluth)

 

 

Barbara Degen, Bethel in der NS Zeit - Die verschwiegene Geschichte, VAS-Verlag für Akademische Schriften, 2014

Barbara Degen ist Historikerin und Mitarbeiterin im Haus der Frauengeschichte. Ihr Großvater war Opfer des Euthanasieprogramms der Nazis. Damals wurden insbesondere Kinder und Erwachsene mit sogenannten Behinderungen, von Blindheit bis zu psychischen „Auffälligkeiten“, Opfer dieses verdeckten Tötungsprogrammes. Die Euthansie diente auch als Feldforschung zum Errichten der späteren Massenvernichtungsanlagen wie Auschwitz und anderen. So wurden Euthanasieopfer erstmals in Pirna in Gaskammern getötet.

Für Frau Degen war die persönliche Betroffenheit ihrer Familie Anlass, die Akten der protestantischen Bodelschwingschen Anstalten in Bielefeld, bekannt unter dem Namen „Bethel“, zu sichten und zu erforschen.

Ihre Forschungsergebnisse haben Skandale, Diskussionen und Betroffenheit ausgelöst, bis hin zu dem Umstand, dass Akten, die sie während ihrer Arbeit gesichtet hatte, beim späteren Besuch in Bethel verschwunden waren.

Bethel stand im Ruf, sich nicht an der Euthanasie beteiligt zu haben und sogar verstärkt zur Rettung der Menschen eingetreten zu sein. Die Akten sprechen eine andere Sprache.

In sieben übersichtlichen Kapiteln und in einer für eine wissenschaftliche Arbeit leicht zu lesenden Sprache analysiert Frau Degen z.B.  im Kapitel „Zu viele gestorbene Kinder“.

Viele behinderte Kinder sind angeblich an Infektionskrankheiten gestorben. Dies war als erklärte Todesursache gängige Praxis, um die Angehörigen über das plötzliche Versterben zu informieren. Obwohl Bethel über eine eigene Krankenstation für Infektionskranke verfügte, sind diese Kinder aber nie dorthin überwiesen worden. Behinderten Kleinkindern wurde eine Kur von fettarmer Kost sowie dem Beruhigungsmittel Luminal verabreicht. Diese Kombination wirkt auf Dauer tödlich. Die meisten der dort eingewiesenen Säuglinge sind unter einem Jahr verstorben.

Die Definition der „mütterlichen Liebesdienste“, Bethels Geschichte, den Umschwung ab 1938, die Jahre 1940-45 sowie die Geschichte der Anstalt nach 1945 sind weitere Inhalte der folgenden Kapitel.

So deckte sie auf, dass auch dort Zwangssterilisierungen zum Anlass genommen wurden, die davon Betroffenen später in die Konzentrationslager zu überführen, da ihr „unwertes Leben“ ja bereits aktenkundig war.

Erschütternd ist auch, daß es eine. Umbewertung in der protestantischen Leitphilosophie der Nächstenliebe gab: Euthanasie wurde als „Liebesdienst 2“ bezeichnet. Indem man das Leben behinderter Menschen als unwürdig und quälend definierte und daraus folgend den Tod als Erlösung, wurde offiziell und später auch im Krankenschwesternunterricht die Hilfe zum Sterben als Liebesdienst definiert, eine perfide Methode, um systematisches Töten auch bei den Angestellten im christlichen Haus zu rechtfertigen.

Widerstand der Anstaltsleitung gegenüber einigen Anordnungen kam erst auf, als der „Liebesdienst 2“ auch an kriegstraumatisierten und kriegsversehrten Soldaten angewendet werden sollte, vorher wurde artig mit den Nationalsozialisten kooperiert.

Die Opfer wurden bis heute bis auf wenige Ausnahmen weder entschädigt noch betrauert. Viele hatten nach dem Ende des Faschismus durch ihre Stigmatisierung unter weiterer Diskriminierung zu leiden.

Das Buch ist illustriert unter anderen bedeutsamen Bildern behinderter KünstlerInnen von Zeichnungen und Kunstwerken der behinderten Künstlerin Elfriede Lohse-Wächter. Sie schafft es, das Leiden der Betroffenen in ihren Bleistiftzeichnungen im Stil des tiefen Gefühlsausdrucks von Käthe Kollwitz sichtbar zu machen.

Wer heute in Institutionen arbeitet, in denen behinderte Menschen leben, sollte sich das Buch nicht entgehen lassen. Es zeigt überdeutlich, wie unmenschliche Ziele in schöne Worte gepackt werden und im Unterricht hübsch verpackt zu Leitgedanken werden.

Es braucht mutige Menschen, die diese Mechanismen immer wieder benennen und durchschauen, um den Wandel zu einer besseren Gesellschaft zu unterstützen.

Rezension von Anja Kraus, HP und Redakteurin der LACHESIS für Lachesis e.V. Newsletter 2/15

 

Die Freude am Leben - von Emile Zola, Roman erschienen im Rütten & Loening Verlag 1971

Der Roman ‚Die Freude am Leben’ gehört zu dem 20bändigen Zyklus ‚Die Rougon-Marcquart, Natur-und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich’  des französischen Schriftstellers Emile Zola, in dem dieser sein naturalistisch-positivistisches Verständnis vom Menschen als von Erbanlagen, Milieu und historischen Umständen determiniertes Wesen entfaltet hat.

Im Unterschied zu den meisten anderen Bänden dieses Zyklus’ wollte Zola mit

‚Der Freude am Leben’ einen ‚intimen Roman machen mit wenig Personen, mit großer Einfachheit des Stils geschrieben’, wie er 1883 seinem Freund Fernand Xau erklärte.

Der Roman wirkt entsprechend wie ein Kammerspiel mit der Vollwaisen Pauline, ihrem schwerst gichtkranken Ziehvater Chanteau und seiner ehr-geizigen Frau, deren unsteten, zur Verzweiflung neigenden Sohn Lazare sowie dessen späterer Braut und Paulines Kontrahentin Louise als Hauptpersonen.

Hinzu gesellen sich noch das Hausmädchen Veronique, ein Pfarrer, ein Arzt, eine Hebamme, der Hund Mathieu und die Katze Minouche.

Ort der Handlung ist das Anwesen der Familie Chanteau am  Rand des kleinen, ständig vom Meer in seiner Existenz bedrohten Fischerdorfs Bonnesville an der normannischen Küste.

Anders als der Titel des Romans zu verheißen scheint, rückt Zola hier die Frage nach dem Sinn des Leids im menschlichen Daseins in den Vordergrund.

„Von den bemerkenswertesten Romanen aus seiner Feder haben wenige eine solche Größe wie die Geschichte dieser einfachen, bürgerlichen Familie, deren mittelmäßige und doch fürchterlichen Tragödien sich vor dem Hintergrund des Meeres abspielen, dieses Meeres, das wild ist wie das Leben und ebenso unerbittlich und unermütlich und das langsam ein armseliges, in eine Falte der Steilküste gebautes Fischerdorf wegspült. Und über dem ganzen Buch schwebt ein schwarzer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen: der Tod.“      (Guy de Maupassant in einer Rezension vom April 1884)

Das andere Thema des Romans ist die Güte und sie wird verkörpert durch die in ihrer selbstaufopfernden Grundhaltung oft naiv wirkenden Pauline.

So hatte Pauline beispielsweise auf die mögliche Ehe mit dem von ihr selbst geliebten Lazare zugunsten von Louise verzichtet, da sie dachte, dass ihr Geliebter in dieser Beziehung glücklich werden könnte. Doch angesichts aufkommender Konflikte der beiden, stellt sie den Sinn ihrer Opfers in Frage:

„Welch ein Jammer, das Gute zu wollen und das Schlechte zu tun, so wenig vom Leben zu wissen. dass sie die Menschen ins Verderben stürzte, wenn sie nur ihr Heil wollte!

Gewiss, sie hatte geglaubt, gütig zu sein, ihr Liebeswerk dauerhaft zu gestalten an dem Tage, da sie beider Freude mit so vielen Tränen bezahlt hatte. Und eine große Verachtung für ihre Güte überkam sie, da Güte nicht immer Glück bewirkte.“

So ist der Roman von Zola ‚Die Freude am Leben’ ein Ausdruck seines Nachdenkens über das menschliche Sein, über den Sinn von Leiden und Güte:

„Und gerade das war offensichtlich auch ein Bedürfnis für den nunmehr Vierzigjährigen, der im Zenit seines Lebens stand, auf der Höhe seines Ruhms, und gerade dadurch eine kurze Zeit innerlich unsicher wurde, nervös und zerrissen. Viele Jahre später hat Zola bestätigt, dass dieser Roman einige seiner eigenen inneren Ängste in der Gestalt Lazare, der Verkörperung des Leids wiedergebe.“

So urteilt Prof. Dr. Rita Schober im Nachwort zur der 1971 im Rütten & Loening Verlag erschienenen Ausgabe des Werks.

(Aegidius Kluth)

 

Träume von Rosen und Feuer - von Eyvind Johnson, Roman erschienen beim VEB Hinstorff Verlag 1965

Der schwedische Autor Eyvind Johnson erhielt 1962 den Literaturnobelpreis für seine „narrative Kunst, die weit über Länder und Zeitalter blickend, der Freiheit dient“.

Ein eindrucksvolles Beispiel dieser Kunst liefert sein historischer Roman ‚Träume von Rosen und Feuer’. Den Stoff zu diesem umfangreichen auf nachweisbaren Ereignissen basierenden Werk holte sich Johnson aus der Zeit der Hexenverfolgung im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Schauplatz ist die Stadt Loudon in der Nähe von Poitiers.

Im Zentrum dramatischen Geschehnisse um Macht, Liebe, Dämonenglaube und Freiheit des Denkens steht zum einen der Geistliche Urbain Grainier, der aufgrund  seines scharfen Verstandes, seiner Sprachgewandtheit und seines selbstbewussten Auftretens in der kleinen Provinzstadt geachtet und –vor allem von den Frauen – verehrt wird. Allerdings bringt ihm sein lockerer Lebenswandel und seine eigensinnige Art auch viele Neider und Feinde ein. Schließlich gerät er in Konflikt mit dem politisch allmächtigen Kardinal Richelieu, was letztendlich seinen Untergang bedeutet. Als in der Region die Pest ausbricht, wird er wegen Hexerei angeklagt.

Auf der anderen Seite ist da der biedere Ratsherr Daniel Drouin, dessen tagebuchartige Aufzeichnungen einen Großteil des Romans ausmachen. Dieser brave Familienvater empfindet zwar große Sympathie und Nähe zu dem immer mehr in Lebensgefahr geratenen Priester, vermeidet aber trotz differenzierter Wahrnehmungsfähigkeit und Gerechtigkeitssinn jegliche öffentliche Fürsprache und bleibt überwiegend in der Rolle eines Berichterstatters.

Der Roman Johnsons wirkt vordergründig wie ein sachlicher Bericht, beinhaltet aber detaillierte Personen- und Charakterbeschreibungen und zeichnet ein faszinierendes Psychogramm  einer in großen Teilen inhumanen Gesellschaft. Der Autor wählt für seine Geschichte eine multiperspektivische Erzählweise. Immer wieder werden Ereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln verschiedener Personen dargestellt.

Johnson geht es in dieser Geschichte insbesondere um die Freiheit des Individuums gegenüber der ‚Masse‘ der Gesellschaft. Dies wird unter anderem in einem nächtlichen Dialog Urbain Garnier mit seiner Geliebten Madelaine – mit welcher sich der Geistliche heimlich selbst des Nachts am Altar seiner Kirche vermählt hatte – deutlich:

„Du unterschätzt die Menschen, Urbain“, sagte sie.

„Nein“, sagte er. “Aber ich überschätze sie nicht.“

„Du liebst sie nicht“, sagte sie. „Das ist deine Krankheit, und die ist vielleicht unheilbar. Es ist leicht, ein Kind zu lehren, die Menschen zu lieben. Es ist schwerer, das einen Mann zu lehren, der unschuldig im Gefängnis gesessen hat.“

„Wie sollte ich wohl ein Rudel Schafe anders lieben können denn als Schauspiel!“ sagte er. „Ich kann eins von den Schafen lieben, zwei, fünf, zehn – hundert, wenn meine Zeit dazu reicht. Ich kann Wesen lieben, die mir nahe sind, die ich berühren kann, nach denen ich mich sehnen, die ich vermissen kann. Aber die Herde? Die Masse, die nicht länger eine Mehrzahl von Individuen ist?“

„Es sind Individuen“, sagte sie.

„Sie sind Individuen, die zu einer Herde verwandelt werden können, und also sind sie eine Herde. Wer war das, der von der Tobsucht der Herde gesprochen hat? Jemand muss ja davon gesprochen haben, nachdem die Sprache und der Kampf um die Macht zu den Menschen gekommen sind. Die Tobsucht der Schafherde ist blind. Man kann nicht eine Herde lieben – allenfalls als Schauspiel. Man kann nicht die Menschheit lieben.“

Man kann“, sagte sie. „Im gleichen Augenblick, in dem man daran denkt, dass es Individuen sind, und in dem man daran denkt, wie Individuen sein können.“

(Aegidius Kluth)

 

 Marias Testament - von Colm Toibin, 2014 beim Hanser Verlag erschienen

Eine anrührende Weihnachtsgeschichte ist das Buch ‚Marias Testament’  des irischen Autoren Colm Toibin wirklich nicht, eher würde sie zur Karfreitagsstimmung passen.

Und dennoch ist das Thema dieses provokanten Romans ein im ursprünglichen Sinne weihnachtliches: Es geht um Menschwerdung, um Menschsein, in all der Grausamkeit und Brutalität zu der Menschen zu allen Zeiten fähig waren und sind.

Im Mittelpunkt steht Maria, die Mutter des Kindes, dessen Geburtstag in aller Welt am Heiligabend gefeiert wird. Doch ist Maria in diesem Roman nicht die Mutter Gottes der christlichen Tradition, sondern eine durch den Schmerz des Erlebten zerbrochene und in der Fremde in Ephesos lebende Frau, die in ihrer persönlichen Rückschau verdeutlicht, dass sie nicht einverstanden sein kann mit dem verklärenden und mystifizierenden Blick der Jünger und Anhänger ihres gekreuzigten Sohnes. Schonungslos schildert sie die Passion Jesu aus ihrer Sicht, ihr Unverständnis für sein Verhalten und ihre Hilflosigkeit und Trauer bei seinem Tod. Andererseits scheint aber auch ihre tiefe Liebe zu dem Unverstandenen durch, eine Liebe, die getragen wird von den Erinnerungen an die Zeit vor seinem öffentlichen Auftreten sowie die Sehnsucht nach dem vergangenen Familienglück am Sabbat, das sie so gerne zurückhaben möchte:

„Es gibt in diesen Tagen, ehe der Tod kommt und meinem Namen flüstert, mich ins Dunkel ruft, mich zur Ruhe lockt, da ich weiß, dass ich mehr von der Welt verlange: Nicht viel, aber mehr. Es ist einfach. Wenn Wasser in Wein verwandelt werden kann und die Toten zurückgeholt werden können, dann will ich, dass sich die Zeit zurückdreht. Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohnes Tod ereignete, oder bevor er von zu Hause wegging, als er noch ein Kleinkind war und sein Vater lebte und es Behagen in der Welt gab. Ich will einen dieser goldenen Sabbattage, Tage ohne Wind, an denen Gebete auf unseren Lippen lagen, an denen ich mich den Frauen anschloss und die Worte anstimmte, die flehentliche Bitte an Gott, Recht zu schaffen dem Armen und der Waisen, dem Elenden und Geringen zum Recht zu helfen, den Bedürftigen zu erretten, sie alle aus der Gewalt der Gottlosen zu erlösen. Wenn ich diese Worte zu Gott sprach, war es von Belang, dass mein Gatte und mein Sohn nahebei waren; dass bald, nachdem ich allein nach Hause gegangen war und mit verschränkten Händen im Schatten gesessen hatte, ich ihre heimkehrenden Schritte hören und ich das schüchterne Lächeln meines Sohnes gewärtigen würde, wenn sein Vater ihm die Tür aufmachte und wir dann schweigend sitzend darauf warten würden, dass die Sonne unterging und wir wieder reden könnten und miteinander essen und uns mit Behagen rüsteten für die friedvolle Nacht an dem Tag, an dem wir uns erneuert hatten, an dem unsere Liebe zueinander und zu Gott und zu der Welt tiefer und umfassender geworden war.

Das ist jetzt vorbei. Der Junge wurde zu einem Mann und verließ sein Elternhaus und starb am Kreuz. Ich möchte mir vorstellen können, dass das, was ihm geschah, nicht kommen wird, dass es uns sehen und sagen wird: nicht jetzt, nicht die. Und uns gestattet sein wird, in Frieden alt zu werden.“

‚Marias Testament’ ist zweifellos provokant und quer zur Weihnachtsseligkeit, aber gerade so wird um so deutlicher, was es eigentlich heißt, wenn Christen an diesem Fest von der Menschwerdung des liebenden Gottes sprechen.

(Aegidius Kluth)

 

Selbstportrait mit Frau - von Andrzej Szczypiorski, Roman im Diogenes Verlag erschienen  

Kamil, ein 60jähriger Intellektueller aus Warschau steht im Mittelpunkt dieses eindrücklichen Romans des bekannten polnischen Schriftstellers Andrzej Szczypiorski.

 

Dabei geht es insbesondere um das Innenleben des Protagonisten, seine Hoffnungen und Sehnsüchte, seine Alpträume und Ängste vor dem Hintergrund der politischen Geschehnisse im Polen der Kriegs-und Nachkriegszeit.

Als politischer Aktivist während der Wendezeit der achtziger Jahre wird Kamil zu einem Interview in die Schweiz eingeladen um sich dort mit einer Journalistin zu treffen.

Statt aber, wie von ihm erwartet, über die politischen Ereignisse der Solidarnosc-Zeit zu sprechen, gibt er dem Gespräch mit der etwas jüngeren, verheirateten Ruth Gless ein anderes Thema vor:

„Ich hoffe, Sie akzeptieren mich so, wie ich bin, mit dem ganzen Gepäck meines Wahns, meiner Barbarei, aber auch mit dem unbeschreiblichen Taktgefühl, von dem hiesige Männer schon seit langem keine Ahnung mehr haben. Ich unterstreiche das nachdrücklich, weil ich entschieden habe, worüber ich reden werde. Also – ich will von den Frauen in meinem Leben erzählen. (…). Bitte sehr, ich bin nicht in der Lage, etwas über Politik zu erzählen, weil Politik im Licht meiner Erfahrungen hauptsächlich mit dem Töten von Menschen zu tun hat, mit ihrer ständigen Misshandlung, und wenn sie am Leben bleiben, dann nur, damit andere sie nach Belieben belügen, korrumpieren und in den Schmutz treten können. Ich verstehe, vom Gesichtspunkt des ‚Hotels des Bergues’ aus, wo Sie mich untergebracht haben, wirkt die Sache sogar äußerst interessant, aber ich soll Ihnen ja mein Leben erzählen und nicht umgekehrt.“

Der Roman ‚Selbstportrait mit Frau’ fasziniert durch die bildreiche, gefühlvolle Sprache mit der Szczypiorski das schillernde Bild eines Menschen malt, der an der Gewalt des Erlebten zerbrochen zu sein scheint, der aber trotz aller Dunkelheiten um sein Lebendig-Sein ringt und sich wiederfindet in den liebenden Augen einer Frau.

(Aegidius Kluth)

Die Stadt hinter dem Strom – ein Roman von Hermann Kasack, Suhrkamp Verlag 1956

Wer eine leichte Lektüre für einen gemütlichen Leseabend am Kamin sucht, ist bei diesem Roman garantiert falsch. ‚Die Stadt hinterm Strom’ ist ein in jeder Hinsicht anstrengendes und unbequemes Werk. Es erzählt die Geschichte einer rätselhaften Reise des Orientalisten Dr. Robert Lindhoff in eine für ihn fremde Stadt. Mit dem Auftrag als Archivar und Chronist die Gebräuche und Geschichte dieser Stadt aufzuschreiben, weilt er zeitlos an diesem gespenstischen Ort wie in einem düsteren Traum. Schließlich erkennt er während einer Begegnung mit seiner ehemaligen Geliebten Anna, dass er sich in einer völlig anderen Wirklichkeit befindet:

„Wie mit Messern ritzte es sich in sein Bewusstsein, wo er weilte und diese bleiern stehende Zeit immer geweilt hatte: im Umgang mit Phantomen, mit leeren Bildern, die das Leben vortäuschten. Ein Blitz hatte den Vorhang vor seinen Augen zerrissen, er erkannte die nackte Unheimlichkeit der Wahrheit vor sich: er lebte in der Stadt der Toten.“

Anna ist es auch, die ihm bereits zuvor die entscheidenden Fragen gestellt hatte, die vielleicht den Kern des ganzen Romans ausmachen:

Warum“, sagte sie verhalten, „glaubst Du nicht? Warum willst Du den Rest des Seins nicht wahrnehmen? Es kommt auf jeden Augenblick an. Was bleibt?

Das Buch von Hermann Kasack ist eine beklemmende Auseinandersetzung mit dem Tod und mit der Frage nach dem Sinn des Daseins. Der Autor verwebt in dem 500 Seiten umfassenden existentialistischen Werk sprachlich anspruchsvoll Aspekte abendländischer Philosophie und fernöstlicher Lebensweisheit miteinander.

„Wo bin ich?“ – so lautet die letzte Frage des Protagonisten auf seiner endgültigen Reise hinter den Strom. Eine Frage, der sich am Ende auch der Leser stellen muss.

 

Der in den Jahren zwischen 1942 und 1946 geschriebene und 1947 erstmals erschienene Roman war in der Nachkriegszeit sehr erfolgreich und wurde sogar von Hans Vogt als Oper in drei Akten komponiert und 1955 in Wiesbaden uraufgeführt.

(Aegidius Kluth)

 

 

Cervantes  von Bruno Frank, Stockholm 1944                

Bruno Frank (1887-1945) führt in diesem historischen Roman den Leser mit klarer und dennoch bildreicher Sprache durch das höchst bewegte Leben des spanischen Dichters Cervantes, des Schöpfers von Don Quijote von La Mancha.

Er lässt dabei die faszinierende Welt des ausgehenden 16.Jahrhunderts mit seinen prunkvollen Metropolen Madrid, Rom, Venedig und Algier entstehen.

In dieser von sozialer Ungerechtigkeit und Krieg geprägten Gesellschaft erfährt Frank’s Don Miguel alle Höhen und Tiefen des Lebens, findet sich mal am Hof Philipps von Spanien und mal in einem dunklen Verlies in Nordafrika wieder. Er begegnet Priestern und Dirnen, Piraten und Höflingen, Fürsten und einfachen Bauern.

‘Alles ging wirr durcheinander, ein ununterscheidbares Wogen von Hoffnung, Entschluss und Enttäuschung, neuem Anlauf, neuer Enttäuschung.’

In einem seltsamen Kerker in Sevilla schließlich bringt er die ‘Frucht seines Lebens’ hervor: Die Geschichte des Don Quijote und seiner Gefährten.

In dieser Figur zeichnet Cervantes sein eigenes Spiegelbild, das zur Personifizierung einer ganzen Epoche werden sollte:

‚Sein Held … er trat an den Tisch. Im Flackerschein der entzündeten Kerze beschaute er sein primitives Bildnis. Nein, sein Ritter war kein holdseliger Jüngling, kein rosiger Cherub. Ein braver, klappriger Alter, ein bißchen närrisch geworden durch all den verschollenen Spuk. Müßt‘ es nicht prächtig sein, so einen ausziehen zu lassen, im Glauben, noch sei die Ritterzeit. Was für tolle und bittere Scherze, wenn er auf seiner knochigen Mähre durch das Spanien von heute ritt, durch die arme Mancha etwa, wo die Bauern sich um den Eierpreis sorgten. Wenn er allenthalben Kampfesehren ersah und zu erlösende Unschuld, als ein rührender Narr, der ewig zu fassen meint, was ewig entschwebt und zergeht. Und der überall seine Schläge bezieht, niedergeworfen wird, sich aufrichtet, weiterzieht, unenttäuschbar, mit starren Greisenblick entgegen dem unverlöschlichen Schimmer der Illusion …‘

Bruno Frank hat die Lebensbeschreibung des Cervantes 1934 im Exil verfasst. Als Jude und Gegner Hitlers wäre es für ihn zu gefährlich gewesen in Deutschland zu bleiben.

Seine Haltung nationalsozialistischen Ideen gegenüber bringt er auch in manchen Passagen des Romans zum Ausdruck, vor allem im Kapitel ‚Blutsprüfung‘, wenn es um sogenannte  ‚Rassenreinheit‘ geht.

(Aegidius Kluth)

Bilderbuch ohne Bilder  von Hans Christian Andersen

Eine Geschichte von der tiefen Verbundenheit eines einsamen Burschen in der Fremde und dem Mond, den er seinen ‚besten Freund in der Heimat‘ nennt, von abendlichen Begegnungen im kleinen Dachstübchen, von mit Worten gemalten Bildern aus der kleinen und großen Welt, erzählt vom kleinen Bruder der Erde:

„…er schien weit in mein Kämmerlein herein und versprach, dass er jeden Abend, wenn er ausginge, einige Augenblicke zu mir herein schauen wolle. Dieses Versprechen hat er auch redlich gehalten. Schade, dass er nur so kurze Zeit verweilen kann. Jedesmal, wenn er kommt, erzählt er dieses oder jenes, was er die vorige Nacht oder an demselben Abend gesehen hat…“

(Aegidius Kluth)